Hochgall (3436m)06.05.2025
Routenbeschreibung
Wildgall (3273m)
Südostgrat
IN MEMORIAM PHILIPP ANGELO, 27.12.1981 – 20.08.2018
Meinem im Mont-Blanc-Gebirge verunglückten Bergkameraden Philipp Angelo gewidmet, der dank seinem außergewöhnlichen Talent auch den Wildgall-Südostgrat zu meistern vermochte.
Diesen etwas längeren Tourenbericht verfasste ich gleich im Anschluss an unsere größte gemeinsame Tour: jene auf die Wildgall über den berüchtigten Südostgrat (14.-15.07.2007, mit nicht eingeplantem Biwak im obersten Gratabschnitt). Wiewohl Philipp (zu Recht!) anmerkte, dass meine Darstellung an manchen Stellen etwas blumig sei, hieß er die Routenbeschreibung ebenso wie die Bewertung der Kletterpassagen grundsätzlich gut; höchstens an einzelnen Stellen hätte er die Schwierigkeiten um eine Nuance niedriger bewertet als ich, z. B. IV statt IV+. Da er aber schon selbst, wenige Stunden vor mir, einen konzisen, sachlichen Bericht zusammengestellt und veröffentlicht hatte, verzichtete ich auf die Publizierung meines eigenen „blumigen“ Manuskripts. Nach Philipps tragischem Absturz von der Nordwand der Grandes Jorasses am 20.08.2018 denke ich an die zahlreichen unvergesslichen Berg- und Hochtouren zurück, die wir insbesondere zwischen 1999 und 2007 gemeinsam unternahmen. Die Erklimmung der Wildgall über den Südostgrat war für mich ein prägendes Erlebnis. Diesen Tourenbericht veröffentliche ich nun zum Gedenken an meinen verunglückten Bergkameraden.
ÜBERSICHT
Die Wildgall ist ein 3273m hoher Felsgipfel in der Rieserfernergruppe. Die Schwarze Scharte trennt sie von der Hochgall, die Hochflachkofelscharte dagegen vom Hochflachkofel. Bis auf den Normalweg, der durch die Südwestflanke führt und „nur“ den Schwierigkeitsgrad III erreicht (Granitplatte unmittelbar unter dem Gipfel) und insgesamt mit PD+ bewertet werden kann, weisen alle Anstiege Schwierigkeiten ab AD- auf. Die Qualität des Gesteins variiert je nach Route und auch innerhalb derselben Route beträchtlich (von gut, stellenweise sogar sehr gut, bis miserabel).
Der Südostgrat (eigtl. Südsüdostgrat) ist nicht nur der längste Grat, der vom Gipfel der Wildgall abzweigt, sondern auch der längste Grat der gesamten Rieserfernergruppe und wohl auch einer der längsten Grate in den Ostalpen überhaupt. Er lässt sich in zwei Abschnitte unterteilen: der obere Abschnitt führt vom Gipfel über mindestens 3 wahrhaft furchterregende Ertürmungen bis zu einem weiteren gewaltigen Felsturm (Punkt 2900m), wo sich der Grat in zwei parallele Flügel teilt, zwischen denen sich eine Wandrinne aufmacht, die sich im unteren Bereich zu einer tiefen Einkerbung verengt, wogegen die zwei Gratflügel rückenartig werden. Die beiden Gratflügel sind vom Antholzer See oder auch knapp unterhalb davon sehr klar zu erkennen. Die Route führt über den östlichen (orographisch linken, also im Sinne des Aufstiegs rechten) Flügel. Während der untere Abschnitt bis Punkt 2900m vom Antholzer See zur Gänze sichtbar ist, bleibt der Abschnitt oberhalb davon größerenteils verdeckt. Auch der Gipfel ist vom See nicht zu sehen.
ZUSTIEG
Vom Antholzer See folgt man eine kurze Weile dem Steig, der auf die Riepenscharte führt. Nach links zweigt bald eine Forststraße ab, der man bis zu ihrem Ende unmittelbar vor dem Bachbett des Riepenbachs folgt (bei der einzigen Gabelung halte man sich rechts auf der Haupttrasse). Nun steigt man im Bachbett des Riepenbachs unschwierig empor, bis sich der Bach zu gabeln beginnt. Man halte sich eher links (also im orographisch rechten Bachbett), bis man links (von Westen) eine eindeutige, breite, zum Großteil mit Gräsern und Alpenrosen bewachsene Rinne sieht, die von einer auf 2190m Seehöhe gelegenen Einsattelung des Südostgrates (genauer: des östlichen Flügels desselben) abzweigt. Bis zur Rinne bzw. auch noch auf ihren orographisch rechten Hängen ist die Bewaldung dicht, oberhalb bzw. orographisch links davon dagegen nur mehr spärlich. Die Höhenangabe der Einsattelung und die nur unterhalb bzw. orographisch rechts davon flächendeckende Bewaldung erleichtern die Identifizierung der Rinne (vom östlichen Flügel des Südostgrats zweigen weiter oben auch andere Rinnen ab, von denen v. a. eine sehr ausgeprägt ist; für unerwünschte Verwechslungen liegt aber diese schon zu weit oben). Wer zum ersten Mal dieses Terrain betritt und den Südostgrat in einem Tag ohne Biwak schaffen möchte, sollte den Zustieg bis zum Beginn der Rinne noch am vorhergehenden Tag erkunden oder gar dort biwakieren. Durch die Rinne steigt man erwartungsgemäß unschwierig, aber recht unwegsam hinauf, am liebsten leicht links (orographisch rechts) des Bachbetts (es gibt ein paar Wegspuren) und erreicht die 1910m hohe Einsattelung, wo das erste von insgesamt nur sehr wenigen Steinmännchen als Belohnung wartet. Vom See bis zur Scharte ca. 1h10’ (vorausgesetzt, dass man den Zustieg zur richtigen Rinne gleich findet).
ROUTE
Auf den ersten 300mH ab dem Einstieg (ab der 1910m hohen Scharte) ähnelt der Grat einem grasdurchsetzten Rücken mit mehreren leichten Felspassagen (II), die sich zum größten Teil auch umgehen lassen. Danach nimmt der Grat erwartungsgemäß schärfere Konturen an. Ein erster Felsblock scheint den Weg fast zu versperren. Hier stellt sich die Frage, ob man nicht in die große Wandrinne ausweichen sollte, die den östlichen vom westlichen Flügel des Südostgrates trennt (ein geographischer Hinweis: gerade unterhalb dieses Felsblocks zweigt eine Rinne in das Kar ab, das von der Schwarzen Scharte zum Antholzer See hinunterzieht: von der Begehung dieser Rinne als Zustieg zum Grat ist aber dringend abzuraten). Entsprechend den Beschreibungen im AVF und in der GMI, die sich im Nachhinein als völlig absurd herausstellten, blieben wir möglichst nahe der Gratkante. Den soeben erwähnten ersten Felsblock umgingen wir unmittelbar rechts auf geneigten, grasdurchsetzten Platten, die schon ganz schön ausgesetzt und an einer Stelle ziemlich brüchig sind – und das leider in einem Schwierigkeitsbereich, der stellenweise wohl schon um den Grad IV liegt (Begehung am Seil). Sobald möglich, kehrten wir auf den Grat zurück (nur 1 SL – Stand mit Schlinge an einem Felsen auf der Gratschneide gut, Zwischensicherungen aber nur spärlich möglich). Es folgt ein ca. 200mH langer Abschnitt, der zunächst nicht wesentlich den Grad III / III+ überschreitet und seilfrei begangen werden kann, bis der einzige unseres Erachtens realistische Weiterweg durch einen sehr engen Kamin führt. 1 SL ist hier zu sichern. Durch diesen Kamin schraubt man sich ohne Rucksack gut hoch, die größeren technischen Schwierigkeiten (nahe schon dem Grad V-) warten aber in einem zweiten, breiteren Kamin gleich oberhalb davon: hier schlugen wir links einen Nagel ein, den wir zurücklassen mussten (zu gut eingeschlagen :-). Nach dieser SL wird der Grat wieder etwas einfacher, ein Felskopf wird in logischer Linie links umgangen und man erreicht in Kürze eine ca. 2500m hohe Gratscharte, die zwischen letzterem Felskopf und dem weiteren Gratverlauf liegt. Von dieser Scharte zieht eine Seitenrinne in die große Wandrinne hinunter, die den östlichen vom westlichen Gratflügel des Südostgrates trennt. Unseres Erachtens wäre der soeben beschriebene, über 200mH umfassende Gratabschnitt (vom ersten Felskopf, den wir unmittelbar rechts umgingen, bis zur jetzt erreichten Scharte) zuerst durch die Wandrinne und folglich durch die Seitenrinne, die zur Scharte abzweigt, in sicher ziemlich abschüssigem, aber wohl nicht schwierigem Gelände (schätzungsweise bis II) zu umgehen, wodurch eine sehr wertvolle Stunde eingespart werden könnte. Eine Garantie für diese Variante können wir aber nicht geben, weil wir entsprechend den Angaben in den Führerwerken treu der Gratkante gefolgt sind.
Oberhalb der nun erreichten Scharte scheint es fast so, als ob sich der westliche Flügel in zwei Flügel teilen würde, oder als ob nun drei Flügel die Südwand des unteren Abschnittes des Südostgratsystems trennen würden. Der Eindruck täuscht im Großen und Ganzen, wie weiter oben klar wird; wer wie auch immer hier drei Gratflügel zählt, möge den rechtesten (im Sinne des Aufstiegs) als den „richtigen“ betrachten. Zunächst hielten wir uns etwas links der besagten Gratkante: hier liegen die Schwierigkeiten ziemlich konstant bei III / III+, stellenweise auch etwas darüber, auf das Seil kann man aber noch verzichten. Dann kehrten wir wieder auf die Gratkante zurück. Ostseitige Umgehungsmöglichkeiten, wie sie im AVF und in der GMI erwähnt werden, sahen wir nirgendwo. Bei konstanten Schwierigkeiten weiterhin im Bereich um den Grad III erreicht man fast den Fuß einer hohen, ziemlich glatten Wand, die eher abweisend wirkt. Anstatt eine direkte Ersteigung zu versuchen, wichen wir, so gut es ging, rechtsseitig aus. Es gilt hier, eine ausgesetzte, von oben nach unten schmäler werdende, geneigte Platte zu überqueren (von oben, also vom Fuße der Wand sichern: die Platte ist zwar leichter, als sie beim ersten Blick aussieht, bleibt aber aufgrund ihrer Exposition recht gefährlich), entlang deren man dann (auf ihrer orographisch linken Seite) ansteigt, bis man wiederum den Fuß der hohen Wand erreicht. Anstatt durch einen gefährlichen Kanal ohne Sicherungsmöglichkeiten unmittelbar rechts unterhalb der Wand emporzusteigen, empfiehlt es sich hier, die überhängende Wand nun direkt zu erklimmen. Die Passage ist luftig, zehrt an den Kräften und fordert Überwindung. Die technischen Schwierigkeiten können durchaus mit V+ bewerten werden. Es sind nur wenige, aber anstrengende Züge, die auf die glatte Gratabdachung führen. Wir vermuten zurecht, eine der schwierigsten Passagen überstanden zu haben: in technischer Hinsicht wird das tatsächlich die Schlüsselstelle bleiben. Eine linksseitige Umgehung der Wand versuchten wir nicht, weil sie uns sehr fragwürdig vorkam; eine Umgehung weiter rechts hätte vermutlich etwas zu weit weg von der Gratlinie in ein abschüssiges Labyrinth geführt, dessen diagonale Durchquerung äußerst riskant aussah: wir ließen lieber die Finger davon. Die gewagte direkte Überwindung der Schlüsselstelle entpuppte sich als goldrichtige Entscheidung: wir standen nun an der Gratabdachung zu Fuße von Punkt 3000, an dem sich die Flügel des Südostgrates vereinen: ungefähr Halbweg… Rechts des Punktes 3000, den es jedenfalls zu umgehen galt, türmte sich vor unseren Augen nach einer deutlichen Scharte ein unüberwindbarer, überhängender Zacken auf, der den oberen Abschnitt des Südostgrates (nach dem Punkt 3000, an welchem sich der Grat in die zwei beschriebenen Flüge teilt) gleich zu Beginn abrupt unterbricht. Rechts unterhalb davon war jenes in den Führern beschriebene errettende Geröllband zu sehen, dessen rechtes Ende mit Firn bedeckt war. Die Querung zum Band und dessen firnbedecktem Ende ist unschwierig. Am Band selbst gönnten wir uns eine kurze Verschnaufpause und eine kleine Mahlzeit. Die Mittagsstunde hatte leider schon längst geschlagen: Eile war geboten. Angesichts dessen, dass wir bis dahin sehr zügig und größtenteils ohne Seilsicherung geklettert waren, flößte mir der Blick auf die Uhr inzwischen schon fast genauso viel Furcht ein wie der Anblick des äußerst komplexen und unübersichtlichen Weiterwegs. Das mit Firn bedeckte rechte Ende des Bandes befindet sich auf einer der unzähligen grat- oder pfeilerähnlichen Abzweigungen, die vom Hauptgrat nach Osten herabziehen – oder vielleicht treffender: herabstürzen. Sie bilden ein weit verzweigtes, unübersichtliches Labyrinth mit unzähligen Sackgassen, plötzlichen Abbrüchen und abschüssigen Platten. Vermutlich zeichnet sich die gesamte Südwand der Wildgall (also nicht nur die östliche, sondern auch die nur teilweise und erst weiter oben vom Hauptgrat sichtbare westliche Seite des Südostgrats) durch ein solches Furchen- und Rinnensystem aus.
Vom errettenden Band gilt es laut beiden Führern jedenfalls, wieder auf die Gratkante hinaufzusteigen. Wir hielten uns auf den Felsen rechts des Rinnensystems, das etwas links des Bandes beginnt und sich bis zur Gratkante emporstreckt. Irgendwie führte uns die Wegsuche tendenziell nach rechts (im Sinne des Aufstiegs). Der Fels wurde immer schwieriger (mehrere Stellen IV, womöglich auch leicht darüber) und stellenweise bröselig. Wir mussten wieder sichern. An mehreren Stellen war größte Vorsicht geboten. Durch die Ostwand diagonal querend, erreichten wir den Fuß eines weiteren, die Ostseite des Südostgrats durchschneidenden Seitengrats, zu welchem wir uns durch eine brüchige Verschneidung emporwanden. Dort fanden wir einen guten, wenn auch luftigen Standplatz. Wie luftig dieser Standplatz wirklich ist, erkennt man zum Glück erst dann, wenn man von weiter oben zurückblickt: direkt unter diesem Punkt ist nämlich der Seitengrat (auf seiner orographisch linken Seite) ausgehöhlt, man sitzt also direkt über einem jäh abstürzenden Überhang. Regelrecht erzittern ließ uns aber der Blick auf den Grat selber: erst jetzt wurde uns klar, wie weit entfernt der Gipfel noch war, und welch schauderhafte Felsgestalten den Weg zu versperren schienen. Vor der glatten Gipfelwand ragt eine fast halbmondförmig überhängende, scharf geschliffene Messerschneide aus Fels in den Himmel, die quasi eine Mahnung ausspricht. Einer derartigen Felsgestalt war ich im Leben noch nie begegnet. Davor türmt sich eine weiteres unüberwindbares Felsmonster empor, dessen Drohung nur durch den Anblick des Nachbarn etwas relativiert wird… und vor diesen atemberaubenden Gestalten, die zum Glück umgangen werden, zeichnet sich die Silhouette eines weiteren alles andere als einladenden Turms ab, der als Punkt 3122m in den Führern notiert wird. Vom gerade eingerichteten Standplatz bereitet aber auch schon der Blick auf den unmittelbaren Weiterweg genügend Anlass zur Sorge: die Gratkante ist scharf und schwierig, sie muss in ihrem unteren Abschnitt rechts über ein schmales Band umgangen werden, das als letzte Bastion der Hoffnung über dem gähnenden Abgrund gerade noch an der Flanke des Seitengrats klebt – eine weitere psychologische Prüfung. Der Aufstieg vom Band auf die Kante schaut zunächst beinahe hoffnungslos aus, doch ermöglichen einige gute, gerade noch erreichbare Griffe die Überwindung des scheinbar Unmöglichen in letztlich nicht allzu schwieriger, wenn auch höllisch ausgesetzter Kletterei (ungefähr IV+). Ohne die Kante des Hauptgrates zu erreichen, querten wir nun etwas unterhalb davon in zwar abschüssigem, aber im Vergleich zum schon Überstandenen fast unschwierigen Gelände (nicht über III-) zur Scharte unterhalb des vom vorherigen luftigen Standplatz nur vage erkennbaren 3122m hohen Gratturmes. Diesen umgingen wir ostseitig über einige Bänder unklaren Profils. Es ist schwierig und zermürbend, einen Ausweg aus einem derartigen Labyrinth voller Sackgassen zu finden. Irgendwie gelang es uns – wohl auch mit der Kraft der Verzweiflung, welche durch die länger werdenden Schatten und den kaum herannahenden Gipfel gespendet wurde – die Scharte unterhalb des ersten der beiden Monstertürme zu erreichen. Hier ermöglichen zwei Haken die Abseilung zurück in die Ostflanke, die in diesem Abschnitt ein ungewöhnlich sanftes Gelände aufweist. Man quert ein ganz schönes Stückchen diagonal durch die Flanke, zunächst unschwierig steigend, dann mehr oder minder horizontal, wieder ein bisschen schwieriger, um auch den zweiten erschreckenden Gratturm (die Messerschneide) zu umgehen, den man von unten jetzt gar nicht sieht und eigentlich gar nicht erahnen würde. Die beiden Monstergestalten werden somit de facto in einem Zug umgangen. Die Erleichterung ist natürlich groß, aber leider von nur kurzer Dauer, denn der Gipfel ist immer noch nicht in Sichtweite und der Blick auf die Uhr lässt nichts Gutes erahnen. Über Blöcke und Felsen, die stellenweise wieder nahe an den Schwierigkeitsgrad IV- herankratzen, kehren wir auf die Gratschneide zurück, die bald durch eine kleine Einschartung unterbrochen wird, ab welcher der Grat wieder schärfere Konturen annimmt. Die Gratlinie ist nicht nur scharf, sondern auch sehr zerrissen. Die Graterhebungen ziehen diesmal nicht besonders weit in die Höhe, reihen sich aber doch in stattlicher Anzahl in einer alles andere als einladenden Palette auf. Die inzwischen gnadenlos fortschreitende Dämmerung verleiht diesem Anblick einen gespenstischen Hauch, zumal der Gipfel nach mehr als 15 Stunden Aufstieg immer noch nicht in Reichweite ist. Insbesondere der erste, recht nahe gelegene Gendarm weist uns abermals von der Gratkante ab und veranlasst uns, einer direkt von der soeben erreichten kleinen Einschartung in die Ostflanke abzweigenden Geröllrinne ca. 40m zu folgen. Hier ist die Ostflanke ein kleines Stückchen horizontal verhältnismäßig unschwierig zu queren (bei guter Wegwahl nicht über III-). Bevor die Querung in der Nähe einer weiteren vom Hauptgrat abziehenden Gratverzeigung schwierigere Züge annimmt, steigt man zurück auf die Gratkante hinauf. Die letzten kleinen Felszacken auf dem Hauptgrat vor der Vereinigung mit der gerade erwähnten Verzweigung lassen zwar das Herz wieder einmal etwas schneller schlagen, verbergen aber keine unerfreulichen Überraschungen: die luftige Kletterei überschreitet diesmal kaum den Schwierigkeitsgrad II+. Es sind inzwischen 16 Stunden seit unserem zeitigen Start vergangen, und der Tag neigt sich unaufhaltsam dem Ende zu. Auf einmal bricht nun der Grat zur letzten Scharte vor dem lange ersehnten Gipfelaufschwung ab. An einem glatten Stein in der Mitte des Bodens des sehr engen Grats waren einige Schlingen angebracht: da hier die Abseilung nach links erfolgt – im oberen Abschnitt des Südostgrates also zum ersten Mal in die Westflanke – können die von rechts angebrachten Schlingen bezüglich ihrer Positionierung als sicher betrachtet werden. Dennoch empfiehlt es sich, zusätzlich eine eigene Schlinge zu opfern. Von der letzten Scharte schaut der Gipfelaufschwung nicht wesentlich leichter aus, als der Blick zuvor vermuten lässt. Die genaueren Konturen des letzten Gratabschnitts lassen sich aber in der nun endgültig hereinbrechenden Dunkelheit nur mehr erahnen: der Weiterweg muss auf den folgenden Morgen verschoben werden. 17 Stunden zügigen, meist sogar seilfreien Kletterns haben nicht ausgereicht, um den Gipfel zu erreichen. In einer kleinen, nicht gerade gemütlichen, aber zumindest nicht allzu exponierten Felsnische richteten wir uns zum Übernachten ein. Die folgenden 7 Stunden hätten wir sehr gerne in einem Schlafsack oder zumindest in einem Biwaksack verbracht. Stattdessen mussten wir uns mit unseren Windjacken zufriedengeben. Die Überreste einer zerrissenen Alufolie erwiesen uns einen bescheidenen, aber willkommenen Dienst, da wir zumindest unsere Füße darin einwickeln konnten. Trotz dieses Notbehelfs blieb uns ein siebenstündiges, in der letzten Phase nahezu pausenloses Finger- und Zehentraining nicht erspart. Der Kalorienverbrauch betrug laut Philipps Uhr etliche Tausend Kalorien nur während der Nacht, für die gesamte Tour soll sich der Verbrauch sogar auf etwa 13.000 (!) belaufen haben. Selbst wenn diese Angaben übertrieben sein sollten, sei angemerkt, dass eine bescheidene Abendmahlzeit und ein kleines Frühstück höchst willkommen gewesen wären. Aber uns stand leider nicht einmal eine Tasse Tee zur Verfügung… Es ist wohl überflüssig zu erzählen, wie lange uns die eigentlich kurze Sommernacht vorkam. Wesentlich ist, dass wir dank dem Umstand, dass die Temperatur wohl nicht unter +5°C sank, keine Erfrierungen erlitten, wiewohl wir bei Sonnenaufgang ziemlich unterkühlt waren.
Aus dem Morgengrauen trat die Silhouette des Gipfels mit zunehmender Schärfe hervor. Da wir zwar „in aller Frische“ aufgestanden waren, aber alles andere als ausgeschlafen waren, suchten wir nach einer Alternative zur direkten Erstürmung, die im Führer mit IV und IV+ angegeben wird – vermutlich um einiges unterbewertet, wie schon der gesamte Grat bis dahin. Wir ließen uns aber nicht darauf ein, den äußerst steilen, stellenweise beinahe senkrechten Bruchhaufen zu durchsteigen, der zum obersten Abschnitt des Südwestgrats führt. Wegen der zahlreichen in den Sand hineingeklopften, z. T. riesigen Felsplatten, die diesen Bruchhaufen dekorieren, erscheint die entsprechende alternative Empfehlung im AVF und GMI unzumutbar (um es mit linden Worten auszudrücken). Ehe als uns in ein solches geologisches Versuchsgelände entsenden zu lassen, hätten wir auf jeden Fall versucht, die Gratkante direkt zu erklimmen, auch wenn die Schwierigkeiten dort allem Anschein nach eher den VI als den oberen IV Grad erreicht hätten. Die extrem gefährliche Ausweichroute entpuppte sich zum Glück als völlig unnötig, denn es existiert eine sinnvolle Alternative. Wir versuchten nämlich mit Erfolg unser Glück durch eine enge, recht eindeutig eingeschnittene Rinne in der obersten Westflanke des Südostgrats, die leicht rechts der Gipfelfalllinie (von unten, also im Sinne des Aufstieges betrachtet) nach oben zum allerletzten (von unten nicht genau erkennbaren) Abschnitt des Südostgrates unmittelbar vor dem Gipfel führt. Die Rinne ist zwar nass und brüchig, aber im eigentlich benötigten Abschnitt nur moderat schwierig. Wir durchstiegen die ersten 10m (Schwierigkeiten bis max. III-) und wichen dann unterhalb eines großen Steins, wo die Rinne schwieriger und steiler wird, nicht links aus, sondern rechts zu einem plattigen Band (nur ein Kletterzug ca. III- in ziemlich gutem Fels – weitaus besser als bis dahin in der Rinne). Wir querten noch ein wenig nach rechts auf dem Band und stiegen anschließend über eine etwas Kraft erfordernde Passage (III) in die gestufte Wand, die wir für ca. 15mH benutzen konnten, ehe sich die Rückkehr in die Rinne als logische Linie empfahl. Die Rinne war hier über eine Länge von ca. 15m verfirnt, aber unproblematisch. Der weitere Aufstieg wird aber schwieriger und v. a. ziemlich gefährlich: die Rinne verschmälert sich nämlich zu einer kaminartigen Einkerbung mit miserablem Fels. Dieser wahrhafte Bröselhaufen verwies uns auf die Felsen zunächst rechts und dann (die Rinne an ihrem obersten Ende, also schon ganz nahe der Gratkante querend) links davon, ehe wir das errettende Band betraten, das gleich und direkt zum lange ersehnten Gipfel führt. Die Erklimmung der Felsen links (d. h. orographisch rechts) der Rinne gestaltet sich zwar schwierig und griffarm (etwa V oder gar V+), aber die Felsqualität ist zum größten Teil wirklich hervorragend. Die an vielen Stellen zuvor vermisste Festigkeit des Gesteins ebenso wie der Anblick des endlich zum Greifen nahen Gipfels verliehen diesen letzten Kletterzügen sogar einen Hauch von Klettergenuss – ungeachtet dessen, dass eine Passage V. Grades nach einer insgesamt 20-stündigen Kletterei und einem ungeplanten Biwak auf 3100m Seehöhe nicht gleich von vornherein für Begeisterung sorgt. Für die vielen Mühen auf dem langen, schier unendlichen Weg durften wir uns am Gipfel mit einer kurzen Verschnaufpause belohnen, während welcher wir natürlich auch ein paar Fotos aufnahmen und unsere Route pflichtmäßig ins Gipfelbuch eintrugen. Es war dies der Vormittag des 15.07.2007. Nach dem Abstieg über den Normalweg verzichteten wir auf die ursprünglich von Philipp geplante anschließende Begehung des Wildgall-Südwestgrats.
ABSTIEG:
Normalweg, in der alpinistischen Literatur (Alpenvereinsführer: Rieserfernergruppe sowie Guida dei Monti d'Italia: Alpi Pusteresi e Vedrette di Ries) ebenso wie in zahlreichen Online-Portalen genau beschrieben.
Meinem im Mont-Blanc-Gebirge verunglückten Bergkameraden Philipp Angelo gewidmet, der dank seinem außergewöhnlichen Talent auch den Wildgall-Südostgrat zu meistern vermochte.
Diesen etwas längeren Tourenbericht verfasste ich gleich im Anschluss an unsere größte gemeinsame Tour: jene auf die Wildgall über den berüchtigten Südostgrat (14.-15.07.2007, mit nicht eingeplantem Biwak im obersten Gratabschnitt). Wiewohl Philipp (zu Recht!) anmerkte, dass meine Darstellung an manchen Stellen etwas blumig sei, hieß er die Routenbeschreibung ebenso wie die Bewertung der Kletterpassagen grundsätzlich gut; höchstens an einzelnen Stellen hätte er die Schwierigkeiten um eine Nuance niedriger bewertet als ich, z. B. IV statt IV+. Da er aber schon selbst, wenige Stunden vor mir, einen konzisen, sachlichen Bericht zusammengestellt und veröffentlicht hatte, verzichtete ich auf die Publizierung meines eigenen „blumigen“ Manuskripts. Nach Philipps tragischem Absturz von der Nordwand der Grandes Jorasses am 20.08.2018 denke ich an die zahlreichen unvergesslichen Berg- und Hochtouren zurück, die wir insbesondere zwischen 1999 und 2007 gemeinsam unternahmen. Die Erklimmung der Wildgall über den Südostgrat war für mich ein prägendes Erlebnis. Diesen Tourenbericht veröffentliche ich nun zum Gedenken an meinen verunglückten Bergkameraden.
ÜBERSICHT
Die Wildgall ist ein 3273m hoher Felsgipfel in der Rieserfernergruppe. Die Schwarze Scharte trennt sie von der Hochgall, die Hochflachkofelscharte dagegen vom Hochflachkofel. Bis auf den Normalweg, der durch die Südwestflanke führt und „nur“ den Schwierigkeitsgrad III erreicht (Granitplatte unmittelbar unter dem Gipfel) und insgesamt mit PD+ bewertet werden kann, weisen alle Anstiege Schwierigkeiten ab AD- auf. Die Qualität des Gesteins variiert je nach Route und auch innerhalb derselben Route beträchtlich (von gut, stellenweise sogar sehr gut, bis miserabel).
Der Südostgrat (eigtl. Südsüdostgrat) ist nicht nur der längste Grat, der vom Gipfel der Wildgall abzweigt, sondern auch der längste Grat der gesamten Rieserfernergruppe und wohl auch einer der längsten Grate in den Ostalpen überhaupt. Er lässt sich in zwei Abschnitte unterteilen: der obere Abschnitt führt vom Gipfel über mindestens 3 wahrhaft furchterregende Ertürmungen bis zu einem weiteren gewaltigen Felsturm (Punkt 2900m), wo sich der Grat in zwei parallele Flügel teilt, zwischen denen sich eine Wandrinne aufmacht, die sich im unteren Bereich zu einer tiefen Einkerbung verengt, wogegen die zwei Gratflügel rückenartig werden. Die beiden Gratflügel sind vom Antholzer See oder auch knapp unterhalb davon sehr klar zu erkennen. Die Route führt über den östlichen (orographisch linken, also im Sinne des Aufstiegs rechten) Flügel. Während der untere Abschnitt bis Punkt 2900m vom Antholzer See zur Gänze sichtbar ist, bleibt der Abschnitt oberhalb davon größerenteils verdeckt. Auch der Gipfel ist vom See nicht zu sehen.
ZUSTIEG
Vom Antholzer See folgt man eine kurze Weile dem Steig, der auf die Riepenscharte führt. Nach links zweigt bald eine Forststraße ab, der man bis zu ihrem Ende unmittelbar vor dem Bachbett des Riepenbachs folgt (bei der einzigen Gabelung halte man sich rechts auf der Haupttrasse). Nun steigt man im Bachbett des Riepenbachs unschwierig empor, bis sich der Bach zu gabeln beginnt. Man halte sich eher links (also im orographisch rechten Bachbett), bis man links (von Westen) eine eindeutige, breite, zum Großteil mit Gräsern und Alpenrosen bewachsene Rinne sieht, die von einer auf 2190m Seehöhe gelegenen Einsattelung des Südostgrates (genauer: des östlichen Flügels desselben) abzweigt. Bis zur Rinne bzw. auch noch auf ihren orographisch rechten Hängen ist die Bewaldung dicht, oberhalb bzw. orographisch links davon dagegen nur mehr spärlich. Die Höhenangabe der Einsattelung und die nur unterhalb bzw. orographisch rechts davon flächendeckende Bewaldung erleichtern die Identifizierung der Rinne (vom östlichen Flügel des Südostgrats zweigen weiter oben auch andere Rinnen ab, von denen v. a. eine sehr ausgeprägt ist; für unerwünschte Verwechslungen liegt aber diese schon zu weit oben). Wer zum ersten Mal dieses Terrain betritt und den Südostgrat in einem Tag ohne Biwak schaffen möchte, sollte den Zustieg bis zum Beginn der Rinne noch am vorhergehenden Tag erkunden oder gar dort biwakieren. Durch die Rinne steigt man erwartungsgemäß unschwierig, aber recht unwegsam hinauf, am liebsten leicht links (orographisch rechts) des Bachbetts (es gibt ein paar Wegspuren) und erreicht die 1910m hohe Einsattelung, wo das erste von insgesamt nur sehr wenigen Steinmännchen als Belohnung wartet. Vom See bis zur Scharte ca. 1h10’ (vorausgesetzt, dass man den Zustieg zur richtigen Rinne gleich findet).
ROUTE
Auf den ersten 300mH ab dem Einstieg (ab der 1910m hohen Scharte) ähnelt der Grat einem grasdurchsetzten Rücken mit mehreren leichten Felspassagen (II), die sich zum größten Teil auch umgehen lassen. Danach nimmt der Grat erwartungsgemäß schärfere Konturen an. Ein erster Felsblock scheint den Weg fast zu versperren. Hier stellt sich die Frage, ob man nicht in die große Wandrinne ausweichen sollte, die den östlichen vom westlichen Flügel des Südostgrates trennt (ein geographischer Hinweis: gerade unterhalb dieses Felsblocks zweigt eine Rinne in das Kar ab, das von der Schwarzen Scharte zum Antholzer See hinunterzieht: von der Begehung dieser Rinne als Zustieg zum Grat ist aber dringend abzuraten). Entsprechend den Beschreibungen im AVF und in der GMI, die sich im Nachhinein als völlig absurd herausstellten, blieben wir möglichst nahe der Gratkante. Den soeben erwähnten ersten Felsblock umgingen wir unmittelbar rechts auf geneigten, grasdurchsetzten Platten, die schon ganz schön ausgesetzt und an einer Stelle ziemlich brüchig sind – und das leider in einem Schwierigkeitsbereich, der stellenweise wohl schon um den Grad IV liegt (Begehung am Seil). Sobald möglich, kehrten wir auf den Grat zurück (nur 1 SL – Stand mit Schlinge an einem Felsen auf der Gratschneide gut, Zwischensicherungen aber nur spärlich möglich). Es folgt ein ca. 200mH langer Abschnitt, der zunächst nicht wesentlich den Grad III / III+ überschreitet und seilfrei begangen werden kann, bis der einzige unseres Erachtens realistische Weiterweg durch einen sehr engen Kamin führt. 1 SL ist hier zu sichern. Durch diesen Kamin schraubt man sich ohne Rucksack gut hoch, die größeren technischen Schwierigkeiten (nahe schon dem Grad V-) warten aber in einem zweiten, breiteren Kamin gleich oberhalb davon: hier schlugen wir links einen Nagel ein, den wir zurücklassen mussten (zu gut eingeschlagen :-). Nach dieser SL wird der Grat wieder etwas einfacher, ein Felskopf wird in logischer Linie links umgangen und man erreicht in Kürze eine ca. 2500m hohe Gratscharte, die zwischen letzterem Felskopf und dem weiteren Gratverlauf liegt. Von dieser Scharte zieht eine Seitenrinne in die große Wandrinne hinunter, die den östlichen vom westlichen Gratflügel des Südostgrates trennt. Unseres Erachtens wäre der soeben beschriebene, über 200mH umfassende Gratabschnitt (vom ersten Felskopf, den wir unmittelbar rechts umgingen, bis zur jetzt erreichten Scharte) zuerst durch die Wandrinne und folglich durch die Seitenrinne, die zur Scharte abzweigt, in sicher ziemlich abschüssigem, aber wohl nicht schwierigem Gelände (schätzungsweise bis II) zu umgehen, wodurch eine sehr wertvolle Stunde eingespart werden könnte. Eine Garantie für diese Variante können wir aber nicht geben, weil wir entsprechend den Angaben in den Führerwerken treu der Gratkante gefolgt sind.
Oberhalb der nun erreichten Scharte scheint es fast so, als ob sich der westliche Flügel in zwei Flügel teilen würde, oder als ob nun drei Flügel die Südwand des unteren Abschnittes des Südostgratsystems trennen würden. Der Eindruck täuscht im Großen und Ganzen, wie weiter oben klar wird; wer wie auch immer hier drei Gratflügel zählt, möge den rechtesten (im Sinne des Aufstiegs) als den „richtigen“ betrachten. Zunächst hielten wir uns etwas links der besagten Gratkante: hier liegen die Schwierigkeiten ziemlich konstant bei III / III+, stellenweise auch etwas darüber, auf das Seil kann man aber noch verzichten. Dann kehrten wir wieder auf die Gratkante zurück. Ostseitige Umgehungsmöglichkeiten, wie sie im AVF und in der GMI erwähnt werden, sahen wir nirgendwo. Bei konstanten Schwierigkeiten weiterhin im Bereich um den Grad III erreicht man fast den Fuß einer hohen, ziemlich glatten Wand, die eher abweisend wirkt. Anstatt eine direkte Ersteigung zu versuchen, wichen wir, so gut es ging, rechtsseitig aus. Es gilt hier, eine ausgesetzte, von oben nach unten schmäler werdende, geneigte Platte zu überqueren (von oben, also vom Fuße der Wand sichern: die Platte ist zwar leichter, als sie beim ersten Blick aussieht, bleibt aber aufgrund ihrer Exposition recht gefährlich), entlang deren man dann (auf ihrer orographisch linken Seite) ansteigt, bis man wiederum den Fuß der hohen Wand erreicht. Anstatt durch einen gefährlichen Kanal ohne Sicherungsmöglichkeiten unmittelbar rechts unterhalb der Wand emporzusteigen, empfiehlt es sich hier, die überhängende Wand nun direkt zu erklimmen. Die Passage ist luftig, zehrt an den Kräften und fordert Überwindung. Die technischen Schwierigkeiten können durchaus mit V+ bewerten werden. Es sind nur wenige, aber anstrengende Züge, die auf die glatte Gratabdachung führen. Wir vermuten zurecht, eine der schwierigsten Passagen überstanden zu haben: in technischer Hinsicht wird das tatsächlich die Schlüsselstelle bleiben. Eine linksseitige Umgehung der Wand versuchten wir nicht, weil sie uns sehr fragwürdig vorkam; eine Umgehung weiter rechts hätte vermutlich etwas zu weit weg von der Gratlinie in ein abschüssiges Labyrinth geführt, dessen diagonale Durchquerung äußerst riskant aussah: wir ließen lieber die Finger davon. Die gewagte direkte Überwindung der Schlüsselstelle entpuppte sich als goldrichtige Entscheidung: wir standen nun an der Gratabdachung zu Fuße von Punkt 3000, an dem sich die Flügel des Südostgrates vereinen: ungefähr Halbweg… Rechts des Punktes 3000, den es jedenfalls zu umgehen galt, türmte sich vor unseren Augen nach einer deutlichen Scharte ein unüberwindbarer, überhängender Zacken auf, der den oberen Abschnitt des Südostgrates (nach dem Punkt 3000, an welchem sich der Grat in die zwei beschriebenen Flüge teilt) gleich zu Beginn abrupt unterbricht. Rechts unterhalb davon war jenes in den Führern beschriebene errettende Geröllband zu sehen, dessen rechtes Ende mit Firn bedeckt war. Die Querung zum Band und dessen firnbedecktem Ende ist unschwierig. Am Band selbst gönnten wir uns eine kurze Verschnaufpause und eine kleine Mahlzeit. Die Mittagsstunde hatte leider schon längst geschlagen: Eile war geboten. Angesichts dessen, dass wir bis dahin sehr zügig und größtenteils ohne Seilsicherung geklettert waren, flößte mir der Blick auf die Uhr inzwischen schon fast genauso viel Furcht ein wie der Anblick des äußerst komplexen und unübersichtlichen Weiterwegs. Das mit Firn bedeckte rechte Ende des Bandes befindet sich auf einer der unzähligen grat- oder pfeilerähnlichen Abzweigungen, die vom Hauptgrat nach Osten herabziehen – oder vielleicht treffender: herabstürzen. Sie bilden ein weit verzweigtes, unübersichtliches Labyrinth mit unzähligen Sackgassen, plötzlichen Abbrüchen und abschüssigen Platten. Vermutlich zeichnet sich die gesamte Südwand der Wildgall (also nicht nur die östliche, sondern auch die nur teilweise und erst weiter oben vom Hauptgrat sichtbare westliche Seite des Südostgrats) durch ein solches Furchen- und Rinnensystem aus.
Vom errettenden Band gilt es laut beiden Führern jedenfalls, wieder auf die Gratkante hinaufzusteigen. Wir hielten uns auf den Felsen rechts des Rinnensystems, das etwas links des Bandes beginnt und sich bis zur Gratkante emporstreckt. Irgendwie führte uns die Wegsuche tendenziell nach rechts (im Sinne des Aufstiegs). Der Fels wurde immer schwieriger (mehrere Stellen IV, womöglich auch leicht darüber) und stellenweise bröselig. Wir mussten wieder sichern. An mehreren Stellen war größte Vorsicht geboten. Durch die Ostwand diagonal querend, erreichten wir den Fuß eines weiteren, die Ostseite des Südostgrats durchschneidenden Seitengrats, zu welchem wir uns durch eine brüchige Verschneidung emporwanden. Dort fanden wir einen guten, wenn auch luftigen Standplatz. Wie luftig dieser Standplatz wirklich ist, erkennt man zum Glück erst dann, wenn man von weiter oben zurückblickt: direkt unter diesem Punkt ist nämlich der Seitengrat (auf seiner orographisch linken Seite) ausgehöhlt, man sitzt also direkt über einem jäh abstürzenden Überhang. Regelrecht erzittern ließ uns aber der Blick auf den Grat selber: erst jetzt wurde uns klar, wie weit entfernt der Gipfel noch war, und welch schauderhafte Felsgestalten den Weg zu versperren schienen. Vor der glatten Gipfelwand ragt eine fast halbmondförmig überhängende, scharf geschliffene Messerschneide aus Fels in den Himmel, die quasi eine Mahnung ausspricht. Einer derartigen Felsgestalt war ich im Leben noch nie begegnet. Davor türmt sich eine weiteres unüberwindbares Felsmonster empor, dessen Drohung nur durch den Anblick des Nachbarn etwas relativiert wird… und vor diesen atemberaubenden Gestalten, die zum Glück umgangen werden, zeichnet sich die Silhouette eines weiteren alles andere als einladenden Turms ab, der als Punkt 3122m in den Führern notiert wird. Vom gerade eingerichteten Standplatz bereitet aber auch schon der Blick auf den unmittelbaren Weiterweg genügend Anlass zur Sorge: die Gratkante ist scharf und schwierig, sie muss in ihrem unteren Abschnitt rechts über ein schmales Band umgangen werden, das als letzte Bastion der Hoffnung über dem gähnenden Abgrund gerade noch an der Flanke des Seitengrats klebt – eine weitere psychologische Prüfung. Der Aufstieg vom Band auf die Kante schaut zunächst beinahe hoffnungslos aus, doch ermöglichen einige gute, gerade noch erreichbare Griffe die Überwindung des scheinbar Unmöglichen in letztlich nicht allzu schwieriger, wenn auch höllisch ausgesetzter Kletterei (ungefähr IV+). Ohne die Kante des Hauptgrates zu erreichen, querten wir nun etwas unterhalb davon in zwar abschüssigem, aber im Vergleich zum schon Überstandenen fast unschwierigen Gelände (nicht über III-) zur Scharte unterhalb des vom vorherigen luftigen Standplatz nur vage erkennbaren 3122m hohen Gratturmes. Diesen umgingen wir ostseitig über einige Bänder unklaren Profils. Es ist schwierig und zermürbend, einen Ausweg aus einem derartigen Labyrinth voller Sackgassen zu finden. Irgendwie gelang es uns – wohl auch mit der Kraft der Verzweiflung, welche durch die länger werdenden Schatten und den kaum herannahenden Gipfel gespendet wurde – die Scharte unterhalb des ersten der beiden Monstertürme zu erreichen. Hier ermöglichen zwei Haken die Abseilung zurück in die Ostflanke, die in diesem Abschnitt ein ungewöhnlich sanftes Gelände aufweist. Man quert ein ganz schönes Stückchen diagonal durch die Flanke, zunächst unschwierig steigend, dann mehr oder minder horizontal, wieder ein bisschen schwieriger, um auch den zweiten erschreckenden Gratturm (die Messerschneide) zu umgehen, den man von unten jetzt gar nicht sieht und eigentlich gar nicht erahnen würde. Die beiden Monstergestalten werden somit de facto in einem Zug umgangen. Die Erleichterung ist natürlich groß, aber leider von nur kurzer Dauer, denn der Gipfel ist immer noch nicht in Sichtweite und der Blick auf die Uhr lässt nichts Gutes erahnen. Über Blöcke und Felsen, die stellenweise wieder nahe an den Schwierigkeitsgrad IV- herankratzen, kehren wir auf die Gratschneide zurück, die bald durch eine kleine Einschartung unterbrochen wird, ab welcher der Grat wieder schärfere Konturen annimmt. Die Gratlinie ist nicht nur scharf, sondern auch sehr zerrissen. Die Graterhebungen ziehen diesmal nicht besonders weit in die Höhe, reihen sich aber doch in stattlicher Anzahl in einer alles andere als einladenden Palette auf. Die inzwischen gnadenlos fortschreitende Dämmerung verleiht diesem Anblick einen gespenstischen Hauch, zumal der Gipfel nach mehr als 15 Stunden Aufstieg immer noch nicht in Reichweite ist. Insbesondere der erste, recht nahe gelegene Gendarm weist uns abermals von der Gratkante ab und veranlasst uns, einer direkt von der soeben erreichten kleinen Einschartung in die Ostflanke abzweigenden Geröllrinne ca. 40m zu folgen. Hier ist die Ostflanke ein kleines Stückchen horizontal verhältnismäßig unschwierig zu queren (bei guter Wegwahl nicht über III-). Bevor die Querung in der Nähe einer weiteren vom Hauptgrat abziehenden Gratverzeigung schwierigere Züge annimmt, steigt man zurück auf die Gratkante hinauf. Die letzten kleinen Felszacken auf dem Hauptgrat vor der Vereinigung mit der gerade erwähnten Verzweigung lassen zwar das Herz wieder einmal etwas schneller schlagen, verbergen aber keine unerfreulichen Überraschungen: die luftige Kletterei überschreitet diesmal kaum den Schwierigkeitsgrad II+. Es sind inzwischen 16 Stunden seit unserem zeitigen Start vergangen, und der Tag neigt sich unaufhaltsam dem Ende zu. Auf einmal bricht nun der Grat zur letzten Scharte vor dem lange ersehnten Gipfelaufschwung ab. An einem glatten Stein in der Mitte des Bodens des sehr engen Grats waren einige Schlingen angebracht: da hier die Abseilung nach links erfolgt – im oberen Abschnitt des Südostgrates also zum ersten Mal in die Westflanke – können die von rechts angebrachten Schlingen bezüglich ihrer Positionierung als sicher betrachtet werden. Dennoch empfiehlt es sich, zusätzlich eine eigene Schlinge zu opfern. Von der letzten Scharte schaut der Gipfelaufschwung nicht wesentlich leichter aus, als der Blick zuvor vermuten lässt. Die genaueren Konturen des letzten Gratabschnitts lassen sich aber in der nun endgültig hereinbrechenden Dunkelheit nur mehr erahnen: der Weiterweg muss auf den folgenden Morgen verschoben werden. 17 Stunden zügigen, meist sogar seilfreien Kletterns haben nicht ausgereicht, um den Gipfel zu erreichen. In einer kleinen, nicht gerade gemütlichen, aber zumindest nicht allzu exponierten Felsnische richteten wir uns zum Übernachten ein. Die folgenden 7 Stunden hätten wir sehr gerne in einem Schlafsack oder zumindest in einem Biwaksack verbracht. Stattdessen mussten wir uns mit unseren Windjacken zufriedengeben. Die Überreste einer zerrissenen Alufolie erwiesen uns einen bescheidenen, aber willkommenen Dienst, da wir zumindest unsere Füße darin einwickeln konnten. Trotz dieses Notbehelfs blieb uns ein siebenstündiges, in der letzten Phase nahezu pausenloses Finger- und Zehentraining nicht erspart. Der Kalorienverbrauch betrug laut Philipps Uhr etliche Tausend Kalorien nur während der Nacht, für die gesamte Tour soll sich der Verbrauch sogar auf etwa 13.000 (!) belaufen haben. Selbst wenn diese Angaben übertrieben sein sollten, sei angemerkt, dass eine bescheidene Abendmahlzeit und ein kleines Frühstück höchst willkommen gewesen wären. Aber uns stand leider nicht einmal eine Tasse Tee zur Verfügung… Es ist wohl überflüssig zu erzählen, wie lange uns die eigentlich kurze Sommernacht vorkam. Wesentlich ist, dass wir dank dem Umstand, dass die Temperatur wohl nicht unter +5°C sank, keine Erfrierungen erlitten, wiewohl wir bei Sonnenaufgang ziemlich unterkühlt waren.
Aus dem Morgengrauen trat die Silhouette des Gipfels mit zunehmender Schärfe hervor. Da wir zwar „in aller Frische“ aufgestanden waren, aber alles andere als ausgeschlafen waren, suchten wir nach einer Alternative zur direkten Erstürmung, die im Führer mit IV und IV+ angegeben wird – vermutlich um einiges unterbewertet, wie schon der gesamte Grat bis dahin. Wir ließen uns aber nicht darauf ein, den äußerst steilen, stellenweise beinahe senkrechten Bruchhaufen zu durchsteigen, der zum obersten Abschnitt des Südwestgrats führt. Wegen der zahlreichen in den Sand hineingeklopften, z. T. riesigen Felsplatten, die diesen Bruchhaufen dekorieren, erscheint die entsprechende alternative Empfehlung im AVF und GMI unzumutbar (um es mit linden Worten auszudrücken). Ehe als uns in ein solches geologisches Versuchsgelände entsenden zu lassen, hätten wir auf jeden Fall versucht, die Gratkante direkt zu erklimmen, auch wenn die Schwierigkeiten dort allem Anschein nach eher den VI als den oberen IV Grad erreicht hätten. Die extrem gefährliche Ausweichroute entpuppte sich zum Glück als völlig unnötig, denn es existiert eine sinnvolle Alternative. Wir versuchten nämlich mit Erfolg unser Glück durch eine enge, recht eindeutig eingeschnittene Rinne in der obersten Westflanke des Südostgrats, die leicht rechts der Gipfelfalllinie (von unten, also im Sinne des Aufstieges betrachtet) nach oben zum allerletzten (von unten nicht genau erkennbaren) Abschnitt des Südostgrates unmittelbar vor dem Gipfel führt. Die Rinne ist zwar nass und brüchig, aber im eigentlich benötigten Abschnitt nur moderat schwierig. Wir durchstiegen die ersten 10m (Schwierigkeiten bis max. III-) und wichen dann unterhalb eines großen Steins, wo die Rinne schwieriger und steiler wird, nicht links aus, sondern rechts zu einem plattigen Band (nur ein Kletterzug ca. III- in ziemlich gutem Fels – weitaus besser als bis dahin in der Rinne). Wir querten noch ein wenig nach rechts auf dem Band und stiegen anschließend über eine etwas Kraft erfordernde Passage (III) in die gestufte Wand, die wir für ca. 15mH benutzen konnten, ehe sich die Rückkehr in die Rinne als logische Linie empfahl. Die Rinne war hier über eine Länge von ca. 15m verfirnt, aber unproblematisch. Der weitere Aufstieg wird aber schwieriger und v. a. ziemlich gefährlich: die Rinne verschmälert sich nämlich zu einer kaminartigen Einkerbung mit miserablem Fels. Dieser wahrhafte Bröselhaufen verwies uns auf die Felsen zunächst rechts und dann (die Rinne an ihrem obersten Ende, also schon ganz nahe der Gratkante querend) links davon, ehe wir das errettende Band betraten, das gleich und direkt zum lange ersehnten Gipfel führt. Die Erklimmung der Felsen links (d. h. orographisch rechts) der Rinne gestaltet sich zwar schwierig und griffarm (etwa V oder gar V+), aber die Felsqualität ist zum größten Teil wirklich hervorragend. Die an vielen Stellen zuvor vermisste Festigkeit des Gesteins ebenso wie der Anblick des endlich zum Greifen nahen Gipfels verliehen diesen letzten Kletterzügen sogar einen Hauch von Klettergenuss – ungeachtet dessen, dass eine Passage V. Grades nach einer insgesamt 20-stündigen Kletterei und einem ungeplanten Biwak auf 3100m Seehöhe nicht gleich von vornherein für Begeisterung sorgt. Für die vielen Mühen auf dem langen, schier unendlichen Weg durften wir uns am Gipfel mit einer kurzen Verschnaufpause belohnen, während welcher wir natürlich auch ein paar Fotos aufnahmen und unsere Route pflichtmäßig ins Gipfelbuch eintrugen. Es war dies der Vormittag des 15.07.2007. Nach dem Abstieg über den Normalweg verzichteten wir auf die ursprünglich von Philipp geplante anschließende Begehung des Wildgall-Südwestgrats.
ABSTIEG:
Normalweg, in der alpinistischen Literatur (Alpenvereinsführer: Rieserfernergruppe sowie Guida dei Monti d'Italia: Alpi Pusteresi e Vedrette di Ries) ebenso wie in zahlreichen Online-Portalen genau beschrieben.
Jedenfalls Kletterausrüstung (Schwierigkeiten im Fels bis V+, bei direkter Ausstiegsvariante, die wir umgingen, eventuell auch etwas mehr) und Gletscherausrüstung (für den Abstieg). Wegen des über weite Abschnitte sehr unwegsamen und extrem unübersichtlichen Geländes (schwierige Orientierung, viele Sackgassen) muss man immer wieder mit erheblichem Zeitverlust rechnen. Deshalb empfehle ich dringend, zumindest einen Biwaksack mitzunehmen.
Aktuelle Verhältnisse in der Umgebung
Andere Routen in der Umgebung
Wildgall (3273m)
Südostgrat
Hintergrundkarten
Info-Ebenen
Risikokarten virtueller Lawinenbulletins
© 2018 Skitourenguru.ch
Welches Lawinenbulletin gilt in deiner Region?
Karte